Der Tod eines alten deutschen Märchens
Machen wir uns nichts vor: Märchen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Vorbei die Zeit, in der noch von verwunschenen Prinzen aus dicken alten Schwarten durch gesetzte ältere Herrschaften den heranwachsenden pubertierenden Monstern vorgelesen wurde. In Zeiten von Harry Potter und Herr der Ringe möchten wir ein altes deutsches Märchen auf neue Art reanimieren.
Wie würde sich ein junges Mädchen ähnlich Schneewittchen in unserer Zeit entwickeln? Wahrscheinlich hätte sie von ihren Kumpels aus der Jugend-Clique einen Spitznamen entsprechend ihres Lebens-Stiles verpasst bekommen. Nennen wir diese durch BRAVO und Dayly-Soups verdorbene Göre einfach mal Schneeflittchen. Ihr Vater hätte statistikgerecht schon die 2. Frau - Schneeflittchens böse Stiefmutter. Die ist natürlich durch die Werbung in den absoluten Jugendwahn getrieben worden und stellt sich jeden Tag nicht etwa vor einen althergebrachten Spiegel, sondern vor eine computergesteuerte interaktive Mattscheibe, die natürlich jede Hautfalte er-scannt und sofort unbarmherzig rational die programmierte Antwort ausspuckt.
Weil aber die Krankenkassen sparen müssen, bekommt die durchgeknallte Stiefmutter keine Therapie bezahlt und muss sich allein mit ihren Jugendkomplexen herumschlagen. Das geht soweit, dass sie ihre Stieftochter durch den Hofjäger um die Ecke bringen lassen will. Der Jäger hingegen ist schon etwas älter und mithin sozialistisch aufgewachsen. Das Gemeinwohl im Auge lässt der Jäger Schneeflittchen am Leben. Diese wiederum flüchtet in die Öko-Kommune der sieben Zwerge. Dort wird sie natürlich durch den internetangebundenen Big-Brother-Computerspiegel sofort geortet. Die Stiefmutter weiß aus unzähligen Horrorfilmen der Privatsender sofort, was zu tun ist. Als Kosmetikberaterin und Öko-Tusse getarnt, joggt sie in den Wald und hat auch beim zweiten Versuch Erfolg: Schneeflittchen geht die Puste aus, da helfen auch Wiederbelebungsversuche nichts. Die Abfallsatzung der Gemeinde sorgt dafür, dass Schneeflittchen als Sondermüll auf einer Friedhofsdeponie entsorgt werden muss. Auf dem Transport dorthin vollbringt ein aus dem nahen Strafregelvollzug entwichener Märchenprinz dann doch noch die rettende Wiederbelebung des bis dato totgeglaubten Körpers.
Es stellt sich heraus, dass die Fantasie der alten deutschen Märchen in unserer trickreich animierten Welt auf der Strecke bleibt und alles nur eine Abfolge vorprogrammierter Ereignisse ist. So stirbt ein altes deutsches Märchen...

(Abgesang gesungen von Irmhild Zemlin nach der Melodie »Mein Freund der Baum« von Alexandra, eingespielt von »Charisma«, neuer Text von Tom B.)

Ich wollt dich längst schon wieder seh'n, mein altes Buch aus Kindertagen.
Du hattest manches mir zu sagen, und wusste ich werd dich versteh'n.
Als kleines Mädchen las ich oft die Kindermärchen und die Sagen.
Die Fantasie kam da zum Tragen, die Langeweile flog davon.
Mit meinem Held hab ich geweint, ich war gespannt dann umzublättern.
Die Märchen war'n mein bester Freund

Die Märchen sind nicht mehr. Der Abschied fällt mir doch so schwer.

Fort sind sie nun, es ist zu spät. Den Kids von heut wird nicht vermittelt,
Wie klein Hänschen wird gegretelt. Ein cooler Wind vorüber weht.
Aktion und Fun sind unser Leben, denn so ein armer Märchenritter
hat nichts von VIVA-Pop und Glitter. Wer wird mir nun die Ruhe geben,
die ich in deinen Zeilen fand. Mein Märchenprinz ist mir verloren,
der mit der Kindheit mich verband.

Die Märchen sind nicht mehr. Der Abschied fällt mir doch so schwer.